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10. Tag, Brúarjökull

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Copyright © 2003 Dieter Graser

Samstag, 26. Juli 2003


So gegen 2 Uhr mal kurz aus der Lüftung gespäht. Am Horizont der Heršubreiš vor rötlichen Wolkenbänken. Aber nicht gleich so spektakulär, daß man das Stativ aufbauen und ein Photo versuchen müßte. Eher was für's Auge. Später nehme ich im Dämmerschlaf das feine Geräusch von Nieselregen wahr. Der Wecker piepst zur Heldenzeit: um 4:00 Uhr. Carpe Diem, the early bird catches the worm, Morgenstund hat Gold im Mund - wie auch immer, je später der Tag um so mehr Schmelzwasser auf dem Gletscher, also ist ein früher Aufbruch angesagt.

Karte
Zum Frühstück immer noch das feine Nieselgeräusch auf dem Zelt. Der Blick nach draußen gibt nicht viel her. Sichtweite 200 m ? Vielleicht auch mehr, wer kann das schon sagen? Es gibt ja nichts zu sehen. Beim Abbau des Zeltes stelle ich fest, das die Heringe nicht festgefroren sind, aber alle in ihren Borlöcher stecken. Der kleine Schmelzwasserbach neben dem Zelt führt kaum mehr Wasser und ist von einer dünnen Eisschicht bedeckt. Aufbruch um 6:20 Uhr. Mit dem GPS ermittle ich den Kompasskurs zu meinen Zielpunkt am Ostrand der Kverkfjöll. Das sind noch 24 km bis dort hin. Leichter Wind aus Süd, also von links. Ebenso müssen alle Bäche von links kommen, da der Gletscher flach nach Norden abfällt. Habe also zusätzlich zum Kompass noch zwei natürliche Hinweise über die ich meinen Kurs abschätzen kann. Nach 10 Metern stehe ich schon mit einem Stiefel im Randsumpf eines "Schneebaches". Guten Morgen Herr Graser - Aufwachen! Erst mal eine halbwegs sichere Passage suchen. Das Spiel geht also weiter. Sobald feinkörniger Schnee auftaucht: Vorsicht! Die Trekkingstöcke verwende ich schon mehr zum Sondieren, denn als Stütze. Auf 135 cm ausgefahren setze ich sie weit voraus und kann Beschaffenheit des Schnees abschätzen. Die Sicht ist gleichbleibend mies. Das Nieseln verstärkt sich zeitweise zu richtigem Regen. Erfreulich ist, daß die Bäche weniger werden und ich damit auch zu weniger Umwegen gezwungen bin. Komme somit gut voran und es glingt mir auch gut die Richtung zu halten. Nur einmal betrügt mich mein innerer Kompass. Nach einer kurzen Pause stiefele ich nach Norden anstatt nach Westen los. Nach wenigen Minuten, einem unguten Gefühl, und parallel zu einem Bach gehend, bemerke ich meinen Irrtum und gehe wieder auf Westkurs.

Gletscherwanderung
Wasser ist allgegenwärtig. Am trockensten ist es auf den Schollen weißen und porösen Eises. Etwas von der Seite gesehen macht es einen massiven Eindruck, aber direkt von oben betrachtet erkennt man, daß es von feinen, maximal Bleistift dicken, senkrechten Röhren durchlöchert ist. Das Verhältnis von Eis zu Luft ist dabei etwa 50/50. Dabei ist dieser Eistyp außerordentlich stabil und absolut trittfest. Auf diesen Schollen von "Poreneis" befinden sich keine der schwarzen Sand- oder Staubpartikel. Ich nehme an, daß diese beim strahlungsinduzierten Hindurchschmelzen durch das Eis diese Röhren hinterlassen. Die Röhren reichen nur so tief wie die Sonneneinstrahlung die schwarzen Staubpartikel erwärmen kann. Unter und zwischen diesen Schollen befindet sich glattes oder grobkörniges Gletschereis, meist mehr oder weniger bedeckt mit einer Schicht aus schwarzer Vulkanasche und Wasser. Das Ganze gleicht mehr einem Wandern über "Eisschollen über schwarzem Wasser", als über einen Gletscher.

Auffallend sind auch 5 - 10 Meter durchmessende, leicht gewölbte, aber vollkommen glatte, mit einer einheitlich dünnen Ascheschicht überzogene Flächen. Sie glänzen wie schwarz lackiert und unter der nur Millimeter dicken Ascheschicht ist glashartes, blaues Eis in das die Spitzen der Grödel kaum eindringen.

Am unangenehmsten sind die kaum erkennbaren Übergänge von "Poreneis" zu oberflächlich geschlossenen Eiskrusten. Auf ihnen bricht man nur allzuoft 15 - 20 cm tief in das drunterliegende Wasser ein. Das hinterhältige daran ist, daß dabei 120 kg auf ein überraschtes, im falschen Winkel stehendes Fußgelenk krachen.

Ab und zu erheben sich schwarze, von einer dicken Ascheschicht bedeckete Kegel über die, sieht man von diesen Kleinformen der Oberflächenstruktur ab, optisch gleichförmige und leicht geneigte Gletscheroberfläche. Diese Kegel dienen mir als willkommene Peilpunkte an denen ich meinen Kompasskurs ausrichten kann. Nur ist es bei den herrschenden Sichtbedingungen meist sehr schwer abzuschätzen in welcher Entfernung sie sich befinden. Sie können 30 cm oder 150 cm hoch sein - die Entfernung mag 150 m oder 1,5 km betragen.

Die Spalten, auf die ich treffe sind eigentlich verheilte Risse und nur wenige Zentimeter breit. Je häufiger sie sind, um so besser wird das Schmelzwasser in die Tiefe abgeleitet. An Kreuzungspunkten solcher Risse finden sich häufig scheinbar bodenlose, senkrechte, mehrere Meter durchmessende Schächte in die das Schmelzwasser hinunterstürzt. Diese Schächte sind, wie die Bäche, oft von einem Deckel aus feinkörnigem Altschnee bedeckt. Man darf sie auf keinen Fall betreten! Je weiter ich nach Westen komme um so häufiger sorgen Risse und Schächte für eine Drainage der Gletscheroberfläche und die Bäche werden seltener.

Um 9:00 Uhr passiere ich den Wegpunkt Eismitte. Falls es heute keine bösen Überraschungen gibt kann ich heute deutlich mehr als die befürchteten 12 km schaffen. Zum westlichen Gletscherrand wären es jetzt noch 18 km. Um Mittag geht der stärkste Regen nieder. Gleichzeitig zeigt sich Richtung Süden zum ersten Mal die Sonne als helle Scheibe durch das milchige Weiß. Eine halbe Stunde später wird deutlich, daß es im Osten, also hinter mir, aufzureißen beginnt. Die Wolken werden dünner und bekommen blaue Löcher. Voraus ist noch alles dunkelgrau. Eine weiter halbe Stunde später lösen sich auch im Westen die Wolken vom Eis und der Fuß der Ostabstürze der Kverkfjöll wird sichtbar. Nun brauche ich keine Behelfspeilpunkte mehr.

Rast
Um 15:00 Uhr behagliche Nachmittagspause mit Salamibrot (lang lebe die Deutsch-Ungarische Freundschaft!), strahlender Sonne und phantastischer Fernsicht. Wetter und der Leckerbissen zur Brotzeit geben meiner Moral einen mächtigen Schub. Die Tatsache, daß ich während meiner Wanderung nur selten einen zum Zelten gut geeineten Platz gesehen habe, bestärkt mich heute noch den ganzen Gletscher zu überqueren. Auf dem buckligen Eis ist kein Schritt wie der vorherige. Jeder Schritt muß anders gesetzt werden. Langer Schritt - kurzer Schritt, mehr nach links - mehr nach rechts, sch... wieder mal eingebrochen. Ein Sprung über einen kleinen Bach. Vorsicht, von vorne rechts hallt unterirdisch, dumpf ein verdeckter Eisschacht in den sich ein kleiner Wasserfall ergießt. Die zunehmende Müdigkeit bekämpfe ich dadurch, daß ich pünktlich alle volle Stunde ein Pause einlege, bei der ich den Rucksack von den Schultern nehme.

Kverkfjöll
Langsam baut sich die breite Mauer des Kverkfjöllmassivs immer höher vor mir auf. Wie wird es am Gletscherrand aussehen? Nach meinem Studium der Karten, der wenigen Hinweise in der Literatur (und die sind 80 Jahre alt) und einigen theoretischen Überlegungen, ist die günstiste, und wahrscheinlich einzig mögliche Stelle vom Westrand des Brúarjökulls abzusteigen der Bereich zwischen dem Eisrandsee Žorgersvatn und dem Ursprung des Gletscherflusses Kreppa. Südlich des Žorgersvatn geht es schon steil zu den Kverkfjöll hinauf. Und nördlich des Kreppa-Ursprungs bildet der Fluß ein unüberwindbare Barriere. Im Jahre 1912 gingen Koch und Wegener bei ihrer Testexpedition mit ihren Islandpferden hier auf den Vatnajökull und 1920 ging hier die Cambridge Expedition vom Eis und kartierte die Gegend. Nur in diesem 1 - 2 km breiten Bereich ist ein Verlassen des Gletschers möglich.

Zum Eisrand hin kommt noch etwas Abwechslung in das Relief des Gletschers. Zwei Felder mit mehreren Meter hohen, mit feiner, schwarzer Asche bedeckten Kegel und Hügel umgehe ich. Eine letzte Pause laut GPS 1,8 km vom Eisrand entfernt. Jetzt wird es spannend. Langsam neigt sich das Eis. Einige harmlose Spalten tun sich auf und werden umgangen. Dann wird der Blick frei hinunter auf die an die Flanken der Vorberge gedrückten, mächtigen Randmoränen und den typischen Schneekragen der sanft, konkav geschwungen vom Eis in den Schutt überleitet. Kein Fluß versperrt mir den Weg! Den Žorbergsvatn kann ich in der ziemliche unübersichtlichen Eisrandlandschaft nicht entdecken. Schneller als gedacht bin ich über die nur mäßig steile Eisflanke des Gletschers abgestiegen und steige dann sehr mühsam über sandbedecktes Toteis und Randmoränen zu einer Serie von 3 - 4 alter Seeterrassen auf. Am Rand eines Schneefeldes, das sich von einem der Vorberge zieht schlage ich mein Zelt auf.

Versteckt, am Rande eines anderen Schneefeldes finde ich einen winziges, aber tiefes Seelein mit klarem Wasser. Es ist 18:20 Uhr. Ich war 12 Stunden unterwegs und bin 24 Kilometer über den Gletscher gegangen. Nach dem Essen mache ich, obwohl die Beine ziemlich schwer sind, noch einen kleinen Verdauungsspaziergang auf den "Hausberg" über meinem Zelt. Von seinem Gipfel aus kann ich zumindest einen Teil des Žorbergsvatn erkennnen. Der Eisrandsee scheint mir deutlich kleiner, als auf der Karte, zu sein. Nicht weit nördlich meines Zeltplatzes, von senkrechten Eisklippen umstanden, der finstere Quellkessel der Kreppa. Schöner Überblick bis zurück zum Snęfell. Irgendwo müßten doch eigentlich die Ungarn sein.

Zurück im Zelt schnell in den Schlafsack. Ich spüre jeden Muskel in den Beinen. Bin überanstrengt und schlafe schlecht ein. Wache gegen 11 Uhr noch einmal auf. Kurz vor dem Wiederwegdämmern, meine ich einen fernen Ruf zu höhren. Ich lausche, da, nochmal, jetzt deutlicher, ein Ruf vom Gletscher her. "Die Ungarn kommen ..." Ich gebe meinerseits ein Zeichen indem ich einen Jodler aus dem Zelt hinaus schicke. Ziehe mich schnell wieder an und suche dann mit schlaftrunkenen Augen den gegenüberliegenden Eishang ab. Schließlich sehe ich die kleinen Gestalten von Norden her kommend zwischen den Aschehügeln den Eishang absteigen. Daß fünf müde Kerle auch so einen Radau machen können! Ich gehe ihnen entgegen und mit lautem Hallo, Glückwünschen und Händeschütteln treffen wir uns. Ich begleite sie durch die Randmoränen hinauf zu den Terrassen. Sie suchen sich rücksichtsvoll eine tiefer gelegene aus und so bin ich etwas vor dem Lärm geschützt. Ich zeige ihnen noch den kleinen See mit dem Trinkwasser und verabschiede mich wieder in meinen Schlafsack.


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