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10. Tag, Kistufell - Gæsavötn

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Copyright © Dieter Graser

Samstag 23. Juli 1994


War um 3:30 Uhr kurz auf und draußen. Der Wind hat deutlich nachgelassen aber eine vollkommen geschlossene Wolkendecke hängt nur etwa 100 Meter über der Hütte und verschluckt alles im Nebel. Keine guten Aussichten für die nächste Etappe die mich am Vörðuhryggur bis auf 1180 m ü.NN bringt. Ich verkrieche mich wieder im Schlafsack und schlafe noch mal bis 5:30 Uhr. Na also, die Wolkendecke hat sich merklich gehoben und scheint sich auflösen zu wollen. Die Sonne kommt auch schon manchmal durch. Komfortables Frühstück an einem Tisch. Die Temperatur liegt jetzt in der Hütte bei 7,2°C und draußen sind es +2,2°C. Ein nettes Thermometer haben die hier! Das Schönste ist aber, ich brauche heute morgen kein Zelt zusammenpacken usw. Noch den Eintrag ins Gestabók (auf isländisch und so gut es eben geht, aber auch mit voller Namensnennung), obwohl ich allenfalls nur den Vorraum benutzen hätte dürfen. Aber was stand so treffend in einem englischen Eintrag im Gästebuch: "Why sleeping on the floor of a dirty foreroom, when there are so nice beds?" Dieser Logik ist kaum etwas entgegenzusetzen. Andere Eintragungen sind zum Beispiel vom Februar von einer Gruppe, die mit Motorschlitten vom Mývatn zu den Grimsvötn auf dem Vatnajökull fuhren und hier übernachtet haben (Respekt!). Ich nutze noch den Luxus der Toilette und schaue nach, ob der Haubach Wasser führt. Aber es ist noch zu früh am Tag und das Schneefeld oben am Hang gibt noch kein Schmelzwasser ab. Ich koche immer noch mit der ersten Kartusche und habe noch drei in Reserve. Ich hinterlasse also eine meiner Ersatzkartuschen als Übernachtungsgebühr, denn in Nýidalur sollten welche für mich bereitliegen, und bis dahin reicht mein Vorrat leicht.

Ich verschließe die Hütte und mache mich um 8 Uhr auf den Weg. Das Wetter wird immer vielversprechender. Inzwischen segeln nur noch flache Cumuli über den Himmel. Der Weg ist überraschend einfach zu gehen. Kein Auf und Ab, sondern über Kilometer flach dahin. Die Karte ließ schlimmeres vermuten. In vielen Windungen zwar, um ungangbare Lava zu vermeiden, aber es geht flott voran und das Laufen ist eine Freude. Habe noch keinerlei Probleme mit den Füßen oder sonstige Beschwerden. Spüre nur ein wenig die Sprunggelenke, die mir das ewig kipplige Geröll etwas übelnehmen, aber das ist keine ernsthafte Behinderung. Wenn ich da an die Tour über den Kjölur zurückdenke. Außer meinem Tee habe ich jetzt nur einen Liter Wasser dabei und somit ist der Rucksack auch etwas leichter geworden.

Trölladyngja
Komme an einem Wegweiser zu einen Wanderweg zur Trölladyngja (12 km) vorbei. Das Symbol für "Wanderweg" ist die Silhouette eines Spaziergängerpärchens, sie im Rock und mit Kopftuch - nett. Die Trölladyngja macht ihrem Namen alle Ehre. Der vollkommen regelmäßige, flache Kegel des Schildvulkans hat an der Basis einen Durchmesser von etwa 15 Kilometer und eine Höhe von etwa 700 Meter. Beim Wegweiser wendet sich die Piste nun nach Südwest. Die Sraßenbauleute haben gute Arbeit geleistet, alle 150 m ein neuer, gelber Pfahl mit Reflektoren. Teilweise haben sie sogar die Route etwas verlegt, um hohen Felsstufen auszuweichen. Die Piste kommt immer näher an den Eisrand heran. Dieser ist jedoch völlig unspektakulär. Eigentlich sieht man nur einen langgezogenen, etwa 100 m hohen Wall, mit etwas chaotischen Schutthügeln. Die unteren zwei Drittel sind von den sanft auslaufenden Schneefeldern des "Schneekragens" bedeckt. Wenn man es nicht weiß, dann würde man hier kein Eis vermuten. Nur an ein, zwei kleinen Stellen war tatsächlich Blaueis zu entdecken. Schließlich steigt der Weg wieder an und ein erstes Schneefeld ist zu queren. Vom Gletscher her kommt ein glasklarer Schmelzwasserbach über den ich mich nicht schummeln kann. Trotzdem spare ich mir die nassen Füße und umgehe ihn in einem respektvollen Bogen um das Bachtor, über den Firn des Schneekragens. Um 11:30 Uhr mache ich die erste Pause des Tages und setze auch den Rucksack zum ersten Mal ab. Das Wetter ist inzwischen phantastisch, nur daß ein eiskalter Wind pfeift, und ich trotz Sonne froh um Kappe, Strinband und Handschuhe bin. Ausgiebige Brotzeit mit drei Scheiben Brot mit Zwiebelmetwurst, Tee und Müsliriegel. Es sind nur noch zweieinhalb Tage bis Nýidalur, also brauche ich nicht zu sparen.

Dyngjuháls
Dann weiter hinauf zum flachen Paß des Vörðuhryggur. Nun wird der Blick nach Westen frei auf das Massiv des Tungnafell mit seinem Plateaugletscher und dahinter der nördliche Teil des Hofsjökull. Zwischen diesen beiden Gletschern weitet sich nach Norden der Sprengisandur bis zum Horizont. Die Schatten der kleinen, aber blendend weißen Thermikwolken ziehen ein regelmäßiges Fleckenmuster über die Ebene. Einzelne Flüsse und Seen sind im hellen Graubraun zu erkennen. Die Aussicht von der Paßhöhe herab ist überwältigend. Ich klemme die Skistöcke unter den Rucksack und sauge das Bild mit den Augen auf. Ich genieße die Illusion als einziger Mensch dieses Bild jetzt sehen zu können. Das Bewußtsein zu Fuß hierher gelangt zu sein, diese Erfahrung in ihrem ursprünglichen und wörtlichen Sinn, lassen mich weit mehr sehen als ein Bild. Das kann kein Photo wiedergeben, hier gibt es keine Perspektive, diese Weite kann man nur mit den Augen erfassen versuchen. Es scheint mir vermessen diese Ebene noch nach Norden durchqueren zu wollen, aber sie wirkt, trotz ihres schlechten Rufes, weit weniger bedrohlich auf mich, als der Sander den ich hinter mir habe. In diesem Augenblick weiß ich, daß ich das Spiel mit dem Wetter gewonnen habe. Ich habe den richtigen Tag erwischt. Vielleicht habe überhaupt einen von "den Tagen" in diesen zwei kurzen Sommermonaten des Jahres getroffen. Es sind unglaubliche Momente. Ich schichte keine Steinwarte auf, es stehen schon hundert und mehr dicht an dicht. Aber es wird mir ganz anders und einen Juchzger lasse ich schon los.

Vörðuhryggur
Trotz augenfälliger Sinnlosigkeit mache ich ein paar Photos die wohl nichts Bedeutsames zeigen werden und gehe dann langsam und knieschonend den steilen Abstieg an. Zwei oder drei mal sind kleine Schneefelder zu queren, die aber mit einem Auto nicht zu umfahren sind. Die Fahrzeugspuren lassen erkennen, daß es wohl nicht ganz einfach war hier durchzukommen. Je weiter ich von der Paßhöhe absteige, um so wärmer wird es und ich kann die Überhosen und schließlich auch den Anorak wieder einpacken. Ein Fjallabil kommt mir entgegen, der Fahrer steigt aus und wir tauschen gegenseitig Informationen über die jeweils vor uns liegenden Teilstrecken aus. Ihn interessieren die Schneefelder am Paß und mich die Furten nördlich des Tungafell und wie weit es noch bis zu den Gæsavötn sei. "Oh, nur fünf Minuten, dort um den Hügel herum und man kann sie sehen." Er hatte recht, nur meinte er wohl "fünf Minuten" mit dem Auto und bei flotter Fahrweise. Aber schließlich um den Hügel herum sehe ich mehr als ich zu hoffen wagte. Zwei schöne, klare Seen mit flachem Ufer, umsäumt von einem leuchtend grünem Band von Moosen. Zwischen den Seen eine mit Flechten, Moos und auch etwas mit Gräsern bewachsene Ebene, die man fast schon als Wiese bezeichnen könnte. Auch ein private Hütte - diese allerdings nun wohlverschlossen. Ist auch egal - zum ersten Mal auf dieser Tour muß ich mein Zelt nicht auf Sand oder Kies aufbauen - ich weiß das zu schätzen. Es ist gegen 15 Uhr und ich kann jetzt noch einen sonnigen Nachmittag genießen.

Gæsavötn
Kaum steht das Zelt kommen zwei Geländewagen mit jungen Isländern zur Hütte. Sie steigen aus öffnen die Motorhauben, lehnen sich hinein, lassen den Motoren aufbrabbeln - was so ein Sechszylinder halt hergibt - laufen ansonsten ein bißchen hier- und dorthin und nach 20 Minuten sind sie wieder in Richtung Nýidalur verschwunden. Habe keine Ahnung, was die hier wollten, bin aber zufrieden, daß die Störung vorüber ist. Meine einzige Erklärung: Benzin macht blind!

Ich genieße die Ruhe, lege mich auf die Matte ins Zelt ,der Eingang ist zurückgeschlagen, das Moskitonetz aber wohlweislich geschlossen, denn meine kleinen Freunde hängen in dicken Trauben über dem Zelt. Sie sind harmlos aber aufdringlich. Schließlich wird es im Zelt einfach zu warm. Ich stehe wieder auf, koche mir draußen einen Kaffee, esse eine halbe Ritter Sport und setze mich auf eine kleine Stufe am Bach. Arktische Idylle, Mücken eingeschlossen und so ziehe ich die Sturmhaube über den Kopf, so daß nur noch die Augen frei bleiben. Mache meine Eintragungen im Tagebuch. Beinahe hätte ich vergessen die unbeschreibliche Wohltat eines kalten Fußbades erneut zu erwähnen! Beschließe einen kleine Photoausflug in die nähere Umgebung zu unternehmen. Der Ausflug dauerte dann fast zwei Stunden. Folgte zuerst einem kleinen Bach durch ein frisches Lavafeld bis zu einer mit Altschnee gefüllten Schlucht. Wenn man eine Wüste durchquert hat, kann man sich gar nicht satt sehen an so einem Bach. Seitlich der Schlucht, dann über ein Schneefeld den Hang hinauf. Schöne Basaltsäulen an einem leider ausgetrocknetem Wasserfall. Blick im Gegenlicht hinunter auf die Oase der Seen. Nach dem Abstieg finde ich direkt unterhalb des kleinen Lavafeldes, etwa 100 Meter südlich der Hütte, eine flachen, bewachsenen Hügel mit etwa 2 Meter im Durchmesser und einer Höhe von 30 bis 40 Zentimeter und aus dem, dicht unter der Kuppe zwei starke, in entgegengesetzte Richtung fließende Quellen entspringen. Ein Hydrologenschmankerl.

Abend
Zum Abendessen Linseneintopf und zum Nachtisch die zweite Hälfte von "Curryhuhn Reistopf". Und dann noch eine Heldentat vollbracht: Haare waschen! Jedesmal wenn man sich nachdenklich den Kopf kratzt, dann hat man schwarze Fingernägel. Nicht, daß da viel zu waschen gewesen wäre, aber dafür war das Wasser saukalt! Der letzte Blick aus dem Zelt gilt wie immer dem Wetter. Der leichte Wind hat am Abend von SW auf SE gedreht und kommt jetzt direkt über den Vatnajökull. Sonst sieht das Wetter noch sehr gut aus.