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4. Tag Bláfell - Hvítárnes

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Copyright © Dieter Graser

Sonntag 23. März 1997


Nicht gut geschlafen - immer wieder aufgewacht. Ein starker Wind steht auf dem Zelteingang und hat mir die Nacht über Triebschnee in die Apsis und damit vor den Eingang des Innenzeltes geschaufelt. Mehrmals wache ich auf, weil das Innenzelt durch die Schneelast eingedrückt und gegen das Kopfteil meines Schlafsackes gedrückt wurde. Gestern abend hatte ich den Zeltrand nicht abgedeckt um durch die Lüftung den Reifansatz zu verringern, aber nun war die Lüftung doch etwas zu gut. Gegen 7 Uhr nutze ich eine ruhige Phase zum Pipi machen. Ich bin schon bereit einen Wassersack zu opfern, kann ihn aber so schnell nicht finden, als plötzlich das Windgeräusch nachläßt. Ich hoffe, daß ich das Zelt öffnen kann, ohne daß sich dieses gleich wie eine Reuse mit Triebschnee füllt. Draußen ist es klar und kalt; -7°C. Die Sonne wird bald hinter dem Bláfell aufgehen. Der Wind hat den ganzen Neuschnee verblasen. Es sieht ganz gut aus für heute, aber ein langer Tag steht mir bevor. Zwar "nur" 22 km, aber die ersten 7 km geht es bergauf zum Paß des Bláfellsháls.

Schnelles Frühstück und dann zusammengepackt. Das Zelt ist gefroren und ich packe wohl auch viel Schnee mit ein. Ich zähle sicherheitshalber meine Schneeheringe ab. Im Schnee kann man sie sehr leicht verlieren und ich hätte mir wohl ein paar mehr zulegen sollen. Dennoch Start erst um 8:30 Uhr. Von der Talsohle beginnt sofort der erste steile Aufschwung zum Bláfellsháls. Während im Talboden windverpreßter, aber griffiger Schnee lag, ist der Hang zum Teil bis auf das blanke Bodeneis freigeblasen. Nach 100 Metern muß ich es einsehen, daß ich ohne Steigfelle nicht die geringste Chance habe. Also die Pulka quer zum Hang parken, ausschirren und die Felle aufziehen. Nun geht es besser aber es ist ein anderes Gehen als an den ersten zwei Tagen. Langsam schiebe ich einen Ski vor den anderen, ich horche in mich hinein, ich versuche die Atemfrequenz konstant zu halten. Etwa 35 kg Gepäck zerren am Schlitten, dazu noch der Rucksack. Ich weiß, die steilsten Stellen des Aufstiegs sind gleich am Anfang, dann lehnt sich der Hang mehr und mehr zurück. Ich finde meinen Rythmus, langsam, sehr langsam steige ich höher. Es ist der Rythmus wie auf einer Skitour in den Alpen. Das Gewicht des Schlittens wirkt wie ein Faktor auf die Steigung. Je nach Neigung und Exposition wechselt die Schneequalität schon auf wenigen Metern von lockerem angewehtem Pulver über so hartgepreßte Erosionsformen, daß selbst die Spitze des Skistocks nur unter erheblichem Druck in den Schnee bis zum durchsichtigen Wassereis auf dem tief gefrorenen Boden eindringt. Ich bewege mich auf oder entlang der Straße, die Spuern der Allradfahrzeuge und die gelben Makierungspfähle, die immer wieder aus dem Schnee ragen, bieten genug Orientierungspunkte. Mit der Höhe nehmen auch Wind und Schneefegen zu. Ich habe Gegenwind. Manchmal scheint der ganze Hang in einer einzigen fließenden, wallenden Bewegung zu sein, aber es ist oft nur eine nicht einmal einen Meter mächtige Luftschicht in welcher der Schnee transportiert wird. Die unmittelbare Bodensicht habe ich nur in meiner nächsten Umgebung, alles weiter entfernte ist überzogen von einer wirbelnden Schicht aus in der Sonne glitzernden Schneekristallen. Dabei herrscht klares Wetter und eine grandiose Fernsicht. Trotz Sonne und Anstrengung brauch ich bald Anorak und die dicke Gesichtsmaske. Die Füße sind mollig warm. Die Spezialgamaschen umschließen die Oberseite der Schuhe vollkommen. Die Schaumstoffisolierung macht zwar Elephantenfüße, ist dafür aber effektiv.

Nach 3 Stunden erreiche ich den höchsten Punkt des Bláfellháls. Es waren nicht einmal 400 Höhenmeter und ich befinde mich jetzt auf 610 m ü. NN. Aber in Island bedeutet das eben etwas ganz anderes als in Mitteleuropa. Kurze Verschnaufpause und versucht ein paar Photos zu machen. Wegen des Schneefegens kann ich das Stativ nicht benutzen. Der Wind hat die Schneeoberfläche zu einem Waschbrett harter Sastrugis erodiert zwischen denen ich mich weiter über den nun flachen Paßrücken schlängele. Rechter Hand taucht die große Steinwarte auf. Ihr Alter ist unbekannt und sie ähnelt eher einem Steinhaufen, als einer Wegmarkierung, allerdings gibt sie ist eine gute Orientierungshilfe ab. Die Mittagspause mache ich dann etwa 2 km weiter an einem weniger zugigem Platz auf dem Plateau. Der Himmel hat sich bezogen und um den Gipfel des Bláfells verdichten sich die Wolken. Die Sonne macht sich langsam rar. Dennoch klare Fernsicht nach Norden über Langjökull, Hvítárvatn, Hrútfell, Kjalfell, Hofsjökull und Kerlingarfjöll. Am Hvítárvatn identifiziere ich 3 schwarze Punkte als die Hütten an der Svartá - 10 km sind es noch bis dorthin und noch mal 5 km bis zur Hütte von Hvítárnes. Auf der Nordseite des Bláfellsháls hat der Wind den Schnee weit weniger überformt, nur die exponierten Kuppen sind eisig freigeblasen, ansonsten herrscht leicht verpreßter oder lockerer Pulver vor. Es geht flacher bergab als mir lieb ist. Ich hatte gehofft mit dem Gefälle im günstigsten Fall sogar bis zur Hvítá "abfahren" zu können. Statt dessen spure ich nun bergab. Sicher, die Pulka schiebt mich von Zeit zu Zeit ein wenig über den Hüftgurt an und zerrt nicht mehr, aber nur selten kommen wir ins Gleiten und selbst das auch nur Dank eines kräftigen Doppelstockeinsatzes. In der Spur der Motorschlitten geht es noch am besten, aber diese halten sich zu hoch am Hang und sind in der zunehmend diffuse Beleuchtung kaum mehr zu erkennen. Schließlich verschwimmt aller Schnee von der Skispitze bis zum Horizont zu einem bläulich, weißen unstrukturierten Nichts. Schneebeschaffenheit und Gefälle kann ich nur noch erspüren, aber nicht mehr sehen. Es nützt nichts vor die Skispitze zu starren - da ist nichts. Der Blick kann frei umherwandern, denn die Fernsicht ist nach wie vor klar. Einzelne aus dem Schnee ragende Felsbrocken geben Orientierungshilfe und erleichtern das Kurshalten. Ich habe die Spur der Motorschlitten verlassen und halte mich mehr an den Verlauf der Straße der jedoch nur noch durch wenige noch erkennbare Pfähle markiert wird.

Ich halte leicht bergab auf die Hvítábrücke zu. Der Hvítávatn selbst ist gefroren und bildet eine schneebedeckte Ebene, nur am Abfluß ist er auf einigen hundert Metern eisfrei. Vor der Brücke ein Pegelhäuschen und etwa 1km flußauf eine Hütte. Haben hier die Isländer gestern übernachtete? (Tatsächlich aber meinten sie eine andere Hütte an der Straße, einige Kilometer nach der Brücke) Auf der Brücke selbst liegt kaum Schnee und so zerre ich den Schlitten über die vereisten Bohlen. Dannach verlasse ich die Fahrstraße, halte ich mich links und folge dem Zaun der einen breiten Streifen entlang des Seeufers vor dem Hunger der Schafe schützen soll. Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal hier zu Fuß von der Brücke zur Svartá gegangen bin: nach 9 Stunden Gehzeit und dem Paß, völlig fertig und wie in Trance. Dagegen geht es mir heute richtig gut, aber ich muß noch weiter als nur bis zur Svartá. Zur Hütte von Hvítárnes sind es noch 9 km. Die Sonne macht mir die Freude und zeigt sich für 10 Minuten. Irgendwo im Osten, bei der Straße, das Geräusch eines Motorschlittens. Nach etwa anderthalb Stunden erreiche ich die Brücke über die Svartá. Der kleine Fluß ist unter Eis und Schnee verborgen, auch auf der Brücke liegt Schnee. Ich folge nicht mehr weiter dem Zaun sondern nehme den direkten Weg zur Hütte. Ich schalte das GPS auf "Goto": 5km auf Kurs 24°. Mit dem Kompaß peile ich eine Landmarke auf dem gegebenen Kurs und versuche geradlinig daraufzuzuhalten. Die Ebene östlich des Sees ist mit großen Moränenblöcken locker überstreut. Das Licht ist zwar wieder diffus aber die Sicht ist immer noch klar und trotzdem ist die Hütte nicht zu sehen. Ich vermute, daß das bis zum Boden reichende Dach der Hütte mit Schnee bedeckt ist und sie so aus größerer Entfernung auch schwer erkennbar macht. Als ich einen flachen Rücken, der quer zu meinem Kurs liegt überquere, da sehe ich sie endlich. Etwas Schnee ist vom roten Dach abgerutscht und der Kamin ragt heraus. Und trotzdem zieht es sich bis ich schließlich die Hütte ereicht habe.

Nun bestätigt sich allerdings eine Befürchtung, die ich seit der ersten Planung dieser Tour hatte: bei einer Hütte ankommen heißt noch lange nicht in einer Hütte sein! Wie um jedes große isolierte Hindernis, sei es Felsblock oder Hütte, verhindert der immer wehende Wind, daß frisch gefallene Schnee liegen bleibt und bildet einen grabenartigen Windkolk an allen windexponierten Seiten. Im Sommer ist es sehr angenehm, wenn sich der Eingang in einem geschützten Winkel, oder zumindest auf der Windschattenseite der Hütte befindet. Im Winter dagegen lagert sich aber genau dort der Triebschnee ab. So hier in Hvítárnes! Eine schöne, steile Schneehalde ist vor westliche Giebelseite geklatscht. Ich schirre mich aus und krame in meinen Erinnerungen. Wo war denn noch der Eingang, rechts oder links? Rechts ist gerade noch ein Holzrahmen zu sehen. Der Schnee ist hart und vereist und die Lawinenschaufel ist für dieses Geschäft eigentlich zu leicht. Meine Vorsicht macht sich allerdings bezahlt, denn ich bin dabei die Scheibe eines Fensters freizulegen! Also muß die Eingangstür wohl unter dem linken Teil der Halde begraben sein. Sicher ist da in den letzten Tagen noch etwas draufgeweht worden, aber nach wenigen Zentimetern kommt beinhart geforener Altschnee - war wohl schon länger niemend mehr hier! Ein erster vereister Türriegel erscheint. Einen halben Meter tiefer ein zweiter. Die Türe ist zweigeteilt. Ich glaube in Norddeutschland nennt man so etwas eine "Klöntür". Ich rüttle an der oberen, schon freigelegten Hälfte, aber die untere will sich mitbewegen. Also diese diese auch bis zum Grund ausgraben! Leicht gesagt, denn ich stoße am Boden auf gut 10-20 cm dickes Wassereis. Da kann ich mit meiner Kunststoffschaufel nichts ausrichten. Wie gut könnte ich jetzt einen Eispickel gebrauchen! Wenn wenigstens der obligatorische Hüttenspaten nicht auch noch an den Torfsoden unter dem Dachüberstand festgefroren wäre! Irgendwann und mit Brachialgewalt bekomme ich ihn frei und mit ein paar blutig geschlagenen Fingerknöcheln kann das Eishacken beginnen. Allein ohne Erfolg. Das Eis füllt auch des Spalt zwischen Schwelle und Tür und reicht offensichtlich bis ins Hütteninnere. Ich lehne an der Tür und mir ist zum Heulen - das gibt´s doch nicht - 10 Stunden auf Ski und dann geht diese blöde, verdammte Tür nicht auf! Sie reagiert auch nicht auf "Sesam öffne dich", auch nicht auf "Mallon" und damit ist mein Vorrrat an entsprechenden Zaubersprüchen auch schon erschöpft. Wieder reiße ich am oberen Riegel, aber die untere Türhälfte will mit und kann aber nicht. Ich bekomme nur drei Finger in den Riegel und da steckt zuwenig Kraft dahinter. Ich hole ein Gurtband aus der Pulka, fädle es durch den oberen Riegel, schlinge es fest um die rechte Hand, suche festen Stand und dann "Hau Ruck". Na, wer sagt´s denn! Anderthalb Stunden hat mich diese Tür gekostet - inzwischen ist es 20:00 Uhr, der Mond ist im Osten hinter den Kerlingerfjöll aufgegangen und es wird langsam dunkel.

Hvítárnes
Ich räume meine Sachen in die Hütte. Der Boden im Vorraum und in der Küche eignet sich zum Schlittschuhlaufen. Mein kleines Thermometer zeigt eine Raumtemperatur von behaglichen -5°C an. Zumindest gibt es hier einen Gasherd und einen großen Topf den ich erst mal mit Schnee fülle. Ein kleiner Kanonenofen wäre auch da, allerdings kein Holz das man verfeuern könnte. Im vorderen Raum steht ein Gerät das aussieht wie eine Mischung aus einem Reliquienschrein und einem Dampfradio. Wahrscheinlich ein Ölofen, aber aus den Symbolen an den Hebelchen und Rädchen ist nicht klug zu werden - "Made in Japan". Eine gefundene Kerze, meine Kerzenlampe und der Primuskocher helfen dem Raum langsam über den Gefrierpunkt. Kochen, Abendessen, dann eine Tasse heiße Schokolade (ein isländischer Klassiker für Hüttenabende), Lektüre und Eintrag im "Gestabók" der Hütte. Der erste Eintrag seit letzten November.

Ab in die Koje. Natürlich in das Bett an der Wand zur Küche - Ehrensache. Diese Schlafstätte ist dafür bekannt, daß deren Schläfer vom Hüttengeist heimgesucht werden soll. Dieser Geist ist weiblich und war (oder ist) die Tochter eines Bauern der hier draußen, vor langer Zeit einmal, seinen Hof hatte. Die Grundmauern sind im Sommer noch zu sehen. Er war wohl nicht sehr umgänglich der Mann, oder er wollte ganz einfach keinen Nachbarn haben. Wie auch immer, über seine Tochter wird gesagt, daß sie noch heute umgehe. Über die Art und Weise der Heimsuchung wird nichts weiter berichtet. Ich kann darüber auch keine Auskunft geben - habe hervorragend und bis gegen 8 Uhr geschlafen.


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5. Tag Hvítárnes - Þverbrekknamúli