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9. Tag, Sandur - Kistufell

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Copyright © Dieter Graser

Freitag 22. Juli 1994


Kaum, daß ich gestern abend in den Schlafsack gekrochen bin, peitschte der Wind zuerst nur Sand gegen das Zelt, aber dann fing es auch schon ziemlich kräftig zu regnen an. Der Wecker piepste um 3 Uhr, kurzer Gang nach draußen. Tiefe, tiefe Wolken, leichter Sprühregen, Sicht etwa 2 - 3 Kilometer. Die Endmoräne und der Gletscherrand sind gerade noch zu erkennen. Zurück in den Schlafsack, bei dem Wetter bin ich erst mal festgenagelt - zum Uršarháls hinauf brauche ich gute Sicht. Um 5 Uhr wache ich wieder auf, Kontrollblick aus dem Zelt - aha, die Sicht ist wieder gut, nur die höheren Berge haben die Köpfe noch in den Wolken. Frühstück mit einer Tasse Tee und einem Müsliriegel - ich muß Wasser sparen.

Ich lege mir nun einen Plan zurecht. Spätestens im Zwickel zwischen Uršarháls und der Zunge des Dyngjujökull muß ich auf die neue Piste oder auf eine eindeutige Markierung der Paßauffahrt treffen. Da der Paß auch für Allrad getriebene Fahrzeuge sehr schwierig zu fahren ist, muß die Piste dort gut gekennzeichnet sein. Es sind etwa zehn Kilometer dorthin, also gut zweieinhalb Wegstunden. Sollte ich den Aufstieg aus irgendeinem Grunde nicht finden, oder der Aufstieg wegen des Wetters unmöglich sein, dann muß ich sofort umkehren! Nach Dreki sind es 40 Kilometer und ich habe noch zwei Liter Wasser. In eineinhalb strengen Tagen kann ich dann wieder in Dreki zurück sein. Es ist wie beim Streckenfliegen. Findest du an einem gewissen Punkt keine Thermik, heißt es sofort abdrehen, um mit der verbleibenden Höhe noch einen sicheren Landeplatz erreichen zu können.

Aufbruch um 7:30 Uhr. Zuerst geht es über schwarzen Sand, dann über ein kilometerbreites Geästel aus trocken gefallenen Abflußrinnen. Die Spuren die das Wasser hinterlassen hat sind noch frisch, aber an der Form der Rinnen ist zu erkennen, daß das Wasser langsam floß und wohl nicht tiefer als 10 - 15 cm war. In den Rinnen ist gelblich, weißes Feinmaterial (Gletschertrübe) abgelagert, und teilweise von Einwehungen schwarzen Sandes überdeckt. Genau diese Rinnen liefern, wenn sie trocken sind, das Material für die Staubstürme die ich gestern beobachtet habe. Es fiel mir schon auf daß sie sich immer in etwa an den selben Stellen entwickelten. Dank des Regens ist alles feucht und bleibt trotz des kräftigen Windes am Boden.

Durch eine breite Unterbrechung der Hügelkette gehe ich über das Schwemmland nach Westen auf eine zweite Kette zu. Ich finde drei Markierungspfähle in einer Reihe, ein vierter liegt halb verschüttet in einer Rinne, aber nur eine alte kaum mehr erkennbare Reifenspur. Ich bin also wohl doch genau auf dem "alten Weg", so wie er in der Karte eingezeichnet ist! Aber auch am Fuß der zweiten Kette ist keine Spur der neuen Piste zu finden. Dafür häufen sich Spuren der alten Piste, Steinmänner und Abfall (sic). Bevor ich am Südende der zweiten Kette Nach SW in den "Zwickel" einbiegen kann, muß ich noch ein Lavafeld umgehen. Am Rand einer Spülrinne finde ich einen Lavablock mit einer durch Sediment abgedichteten Vertiefung auf der Oberseite. In dieser Mulde haben sich vielleicht 5 - 10 Liter Wasser gesammelt! Rucksack ab, raus mit dem Falttrichter und den Kaffeefiltern. Es funktioniert, aus der "Brühe" gewinne ich Wasser das zwar nicht ganz klar ist, aber immerhin nicht knirscht und dafür ausgezeichnet schmeckt. Ich lösche erst meinen Durst und fülle dann meinen Wassersack wieder zur Hälfte (Gewicht!) auf und befestige ihn außen am Rucksack. Bei einer möglichen Umkehr kann ich hier eventuell noch einmal auftanken.

Um 10 Uhr vormittags erreiche ich den "Zwickel" der aus dem Eisrand im Süden, dem Uršarháls im Westen und einem Lavafeld im Norden gebildet wird. Der Untergrund ähnelt mit seinem Muster aus Spülrinnen einem Watt bei Ebbe, aber er ist fest und besteht nicht aus Quicksand. Zumindest gilt das für den Augenblick, denn alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die Flut langsam wieder einsetzt. Von der Moräne her beginnen die ersten Schmelzwasser sich ihren Weg zu suchen. Direkt vor meinen Füßen kann ich beobachten wie eine Spülrinne wieder in Betrieb genommen wird. Das Wasser schiebt sich in einer dünnen Zunge mit 10 - 20 cm/s an mir vorbei, aber 50 Meter oberhalb ist es schon ein kleiner Bach. Der Eisrand ist nur noch wenige hundert Meter entfernt. Eine kleine Stirnmoräne, wohl nicht höher als 20 Meter, und dahinter erhebt sich die fast vollkommen mit schwarzem Schutt bedeckte Eismasse. Beeindruckend, aber maßstabslos. Das Gefühl für Entfernung und Höhe täuscht wohl wie so oft, wenn jeder Vergleich fehlt. Ich mache keinen Erkundungsgang zur Moräne, denn vor mir stehen sie: frisch gelb lackierte Markierungspfähle, schön in kurzen Abständen aufgereiht und am Fuß des Berges leuchtet ein weißes Schild. Auch die steile Auffahrt ist gut zu erkennen. Bingo!!

Noch ein guter Kilometer! Ab und zu ein weiter Schritt über ein halbwüchsiges Rinnsal und der Sander ist geschafft. Nach meinem Spickzettel hätte ich erst heute Abend hier ankommen sollen und jetzt ist es erst 10 Uhr vormittags. Ich bin zufrieden, die ganze Anspannung fällt erst einmal von mir ab. Vor mir liegt ein langer und vergleichsweise hoher Paß. Aber Berge vermitteln mir subjektiv eher einen Eindruck der Sicherheit, als das exponiert sein auf dieser schwarzen Sandebene, auf der ich mich wie eine Schnecke fühlte die über einen Parkplatz kriecht. Der Rucksack lehnt am Schild welches die vom Paß kommenden Fahrzeuge vor der gefährlichen Furt warnt. Es ist das gleiche Schild das an allen bedeutenden Furten im Hochland steht. Aber vormittags um 10 Uhr, noch dazu bei bedecktem Himmel, gibt es hier noch keine Probleme. Am Abend kann es hier wohl anders aussehen. Erst muß ich noch eine Kartenkopie für den Spickzettel zurechtfalten und mache mich "bergfest". Der rote Regenüberzug bleibt ab jetzt über dem Rucksack, er gibt ein gutes Signal ab. Leichter Regen setzt ein, aber die Sicht ist klar und die Wolkenbasis steigt eher noch. Die Voraussetzungen sind also relativ günstig.

Es sind nur gut 300 Höhenmeter bis zum Krater des Uršarháls der auf 1020 m ü.NN liegt, dann bleibt die Gęsavatnaleiš über 15 km in dieser Höhe und steigt zum Schluß noch auf etwa 1200 m ü.NN an. Uršarháls bedeutet "Geröllberg", der Berg gab dem Paß den Namen. Der Uršarháls ist ein Schildvulkan mit einem beachtlichen Krater, der auf der neuen Kartenausgabe unverständlicherweise nicht mehr mit einer speziellen Signatur verzeichnet ist. An der Südseite des Uršarháls staut sich das Eis des Dyngjujökull bis auf halbe Berghöhe. Der Weg wahrt respektvollen Abstand und führt deshalb über den Gipfel.

Der erste Anstieg ist extrem steil. Ich gehe auf der schmalen, in den Hang planierten Fahrspur im Zickzack. Eine der wichtigsten Lehren aus meiner ersten Hochlanddurchquerung ist: alle steilen An- oder Abstiege langsam und schonend angehen! Schnell würde hier auch gar nichts gehen, um so hilfreicher der Einsatz der Skistöcke. In den seltenen weichen Stellen erkenne ich die Reifenspur des Isländers wieder, also ist er doch hier gefahren. Nach dem ersten Steilstück verliere ich prompt den Weg indem ich einer alten Fahrspur folge und gerate etwas zu weit südlich. Macht nichts, ich muß zum höchsten Punkt, und die markierte Route ist genauso steinig wie die Hänge daneben. Ich halte mich daher mehr nach rechts und steige langsam und mühsam höher. Wieder einmal dieses Gestöpsel in Basaltgeröll, jeder Stein ist eine Bedrohung für das Fußgelenk, wenn der Schuh nichts taugt. Und taugt der Schuh etwas, werden ihm zur Rache die Nähte aufgeschnitten. Zwischendurch flaches Steinpflaster, dann wieder Windkanter. Mit dem Höhenmesser kontrolliere ich mein Vorankommen. Kurz vor dem Krater treffe ich wieder auf die neuen Markierungen und bleibe ihnen ab jetzt genau auf der Spur. Erste Schneeflecken und Schmelzwasserseen bestätigen meine Hoffnung, daß die "Durststrecke" nun vorüber ist.

Der etwa 100 m tiefe Krater mit seinen senkrecht abfallenden Wänden ist beeindruckend. Leider aber auch der stürmische NW-Wind und der peitschende Regen. Also nichts wie weiter. Der Blick zurück und hinab zum "Zwickel" zeigt, daß die armseligen Rinnsale, die vor zwei Stunden noch mühelos mit einem Schritt gequert habe, inzwischen schon ein Drittel der Fläche überflutet haben. Nach meinem ursprünglichen Plan hätte ich hier heute Abend, oder, einen sehr frühen Aufbruch vorausgesetzt, gegen Mittag dort eintrudeln müssen. Durch meinen "Abkürzer" und den dadurch verursachten Gewaltmarsch habe ich gestern einen halben bis einen dreiviertel Tag herausgeholt. Das bedeutet, ich komme mit nur zwei Übernachtungen bis zu den Gęsavötn und nicht mit drei!

Von weitem ist schon die Rettungshütte in einem Einschnitt zwischen zwei Bergen nördlich des Kistufell zu sehen. Erst geht es jedoch wieder ein Stück bergab um dann wieder steil zum Dyngjuháls hinaufzugehen, der etwa auf gleicher Höhe liegt. Nun, viel länger als eine gute Stunde wird es dorthin nicht sein. Überraschend tauchen auf der gegenüberliegenden Paßhöhe plötzlich die Scheinwerfer von zwei Fahrzeugen auf und halten an. Nach etwa einer halben Stunde begegnen wir uns dann. Der erste Wagen ist ein hoher Toyota mit Spikesreifen. Die Aufschrift "Vegageršin" (Straßenbauamt) an der Fahrertür und einige Bündel mit frischlackierten, gelben Markierungspfählen auf der offenen Ladefläche, lassen keinen Zweifel auf, daß die drei Männer auf Dienstfahrt sind. Sie sind ebenso neugierig wie ich. Sie haben die Route neu markiert, aber sie wird die nächste Woche noch geschlossen bleiben - zu viel Schnee. Ich sage ihnen, daß ich bei der Hütte übernachten werde und morgen dann zu den Gęsavötn absteige. "Allt í lagi, goša ferš!" - alles in Ordnung, gute Reise. Der zweite Wagen ist ein Range Rover mit Berliner Kennzeichen. Ich werde bestaunt. Offensichtlich dürfen sie im Kielwasser des Straßenbauamts hinterher fahren. Das Fahrwerk und die Fahrzeugunterseite ihres Serien Range Rovers tut mir jetzt schon leid, wenn ich an den "Geröllpaß" denke. Die Isländer haben da deutlich mehr Bodenfreiheit eingebaut, sie wissen auch warum.

Kistufell

Um 16 Uhr bin ich am Dyngjuháls, kein eigentlicher Paß, denn er führt auf eine weiter flach ansteigende Ebene. Die Regenschauer haben nachgelassen, aber immer noch weht der unangenehme Nordwest durch die Scharte. An ihrer Südseite, etwas erhöht an den Geröllhang gebaut, liegt die Hütte. Ich beschließe sie etwas näher zu inspizieren und finde auf ihrer Rückseite eine windgeschützte Bank mit Tisch - richtig einladend, wenn nur das Wetter gemütlicher wäre. Die Eingangstür ist mit Holztafeln verschlossen, aber die sind schnell entfernt und die Türe selbst ist nicht abgesperrt. Der dahinter liegende Vorraum ist feucht, schmutzig, dunkel und ohne jegliche Einrichtung - wenig einladend. Aber da das Wetter so ungemütlich ist ... Eine weitere unverschlossene Tür führt zum Hauptraum - sehr einladend - und da das Wetter eh so ungemütlich ist beschließe ich mir den Status eines Notfalls zuzuerkennen. Niemand ist anwesend um dem zu widersprechen und außerdem fällt "zu Fuß gehen", und das auch noch im Hochland, für die meisten Isländer sowieso in die Kategorie "Notfall". (Anmerkung: Ich sehe das heute etwas anders und bin der Meinung, daß Rettungshütten wirlich nur im Notfall zu beutzen sind!)

Kistufell Hütte
Die Hütte hat 8 Schlafplätze, 2 Klapptische, einen Ölofen und eine Spüle, allerdings kein fließendes Wasser. Ein Fenster ist nicht verrammelt und so gibt es auch genügend Licht. Drinnen hat es 6°C, draußen 5°C. Also mache ich mir erst mal einen heißen Tee und futtere zur Feier des Tages eine ganze (!) Tafel Schokolade. Die Füße hochgelegt erledige ich die Eintragungen im Tagebuch. Zum Abendessen gibt es dann eine Doppelpackung Kartoffeleintopf mit erstaunlichem Quellvermögen. Danach wird sogar abgespült - ich habe genug Wasser. Die Hütte ist zwar gemütlich aber ausgesprochen fußkalt und so krieche ich um 19:45 Uhr in den Schlafsack. Auch wenn die Sonne jetzt sogar kurz einmal zum Fenster herein scheint, der Wind pfeift unüberhörbar um die Hausecken. Mit einem festen Dach über dem Kopf ist der Gedanke an eine Nacht im Zelt immer etwas schreckender als es tatsächlich wäre. Vielleicht kann ich heute ganz beruhigt den Schlaf nachholen, der mir gestern fehlte.


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